Vellamo-Thriller
von Carmen Knöpfel (Kommentare: 0)
Regeln für den Vellamo Thriller
- Nur den letzten Satz des Thrillers oder die nicht abgedeckten Sätze des Vorautors lesen.
- Eine neue Person einführen.
- So lange schreiben, wie du willst.
- Deinen eigenen Text bis auf die letzte Passage abdecken.
- Den Thriller der nächsten Person aufs Kopfkissen in die Koje legen.
Vellamo-Thriller
Der Mond stand halbvoll am Himmel und das Meereswasser glitzerte in Pastellfarben, als Captain Jacqueline mit den Feldstecher die Buchten von Sardegna absuchte. "Okay…", sagte sie in ernstem Tonfall zu sich selbst. "Jetzt einmal scharf nachdenken, wo sie mit dem kleinen Schlauchboot hingefahren sein könnten."
Sie rieb sich am Kinn, dann schaute sie auf ihre Uhr. "Oh shit, gleich schon 18 Uhr!" Diesmal klang sie deutlich besorgter. Die erfahrene Seefahrerin, die die Unterwasserwelt wie ihre Westentasche kannte, wusste auch, dass sich um diese Uhrzeit abends die sardische Wasserboa aufmachte, ihre Beute zu jagen. Der "Schreck des Meeres", wie die Sardische Bevölkerung das Reptil auch noch nannte, ernährte sich fast ausschliesslich von Fleisch. Und da es fast blind war, konnte es Menschen nicht von Seegurken oder Delfinen unterscheiden. Nicht zuletzt liess sie der Geruch von Fäkalien in einen Rausch-ähnlichen Zustand verfallen, in dem sich die bis zu 8 Meter langen und 800 Kilogramm schweren Tiere nicht mehr beherrschen konnten und sich manchmal sogar gegenseitig mit ihren langen Giftzähnen ineinander verhakten.
Überdies hinaus hatten sich in den letzten Jahren die Meldungen von Zusammenstössen zwischen Bootstourist:innen und Wasserboas gehäuft. Captain Jacqueline lief ein kalter Schauer den Rücken hinab, als sie sah, dass Yvonne - die pensionierte Künstlerin - erst vor etwa einer halben Stunde den Fäk(alien)-Tank geleert hatte. Und nun waren alle Crew-Mitglieder schwimmen. Ausser Yvonne. Sie war mit dem Stand-Up Paddle ans Land gepaddelt, um im Dorf ein paar Büchsen Tomaten und eine kleine Staffelei einzukaufen. Obwohl sie zeitlebens abstrakte Bilder mit Öl auf grosse Leinwände malte, hatte sie sich seit ihrer Pensionierung der Aktmalerei verschrieben.
Diese verkauften sich zu ihrem Erstaunen sogar wesentlich besser als die Vorherigen. "Welch primitive Gesellschaft. Wäre ich doch früher darauf gekommen", dachte sie sich. So ging es ihr auch mit einem ihrer jüngsten Werke, wofür sie eine briefliche Anfrage einer wohlhabenden Dr. Med. Evelyn erhalten hatte. Der Brief war - wie konnte es auch anders sein bei einer Ärztin - in kaum leserlicher, strenger Schrift geschrieben und war mit einem unheimlichen Siegel gestempelt, welches einen Sensemann und das Ortswappen von Olbia darstellte. Die verabredete Übergabe des Gemäldes an Dr. Med. Evelyn war heute Abend um 22 Uhr an der Spiaggia di Capriccioli. Dazu musste Yvonne es schaffen, von Captain Jacqueline unbemerkt von Bord zu gehen, mit welcher sie aktuell in Sardinien am Segeln war. Zu Yvonnes Glück konnte sich Captain Jacqueline sehr für die Idee begeistern, am Abend in der Bucht vor der Spiaggia di Capriccioli den Anker zu legen.
Aber wie sollte Yvonne bloss unbemerkt das Boot verlassen? Yvonnes jüngere Schwester, Julia, hat sie auf dem Segel-Törn begleitet. Sie ist begeisterte Literatur-Liebhaberin. Aus vergangenen Abenden wusste Yvonne, dass Jacqueline und Julia eine grosse Begeisterung für kitschige Romantik-Schnulzen teilten. Somit schlug Yvonne gleich morgens beim Frühstück eine Film-Nacht vor, mit Julias Lieblingsfilm "Mamma Mia".
Jacqueline war sofort Feuer und Flamme und bestätige, dass dies zusammen mit "Titanic" auch ihr Lieblingsfilm sei. Nach einem ausgiebigen Abendessen startete endlich der Film. Yvonne nutzte die Gelegenheit und verliess das Boot. Während die anderen glücklich und zufrieden
"Mamma Mia" schauten, nahm Yvonne das Stand-Up Paddle, um sich Richtung Spiaggia die Cappriccioli auf den Weg zu machen um dort Dr. med. Evelyn für die Übergabe des Gemäldes (an Evelyn) zu treffen. Kurz bevor sie das Ufer erreichte, klingelte Yvonnes Handy. Der Anrufer lautete "Dr. med. Evelyn's Klink für Organspende".
"Buongiorno, hier spricht Paul, der Praktikant von Dr. med. Evelyn. Ich melde mich mit sehr guten Neuigkeiten. Wir haben die Niere. Wann können Sie hier sein?" Eine Weile herrschte Stille. Yvonne atmete tief ein, setzte sich auf den mit Flechten überzogenen Stein neben dem Holzsteg und antwortete dann mit leiser, aber dennoch sehr bestimmter Stimme: "Ich treffe Sie morgen im Schrebergartenschuppen hinter Josés Getränkemarkt. Seien Sie pünktlich und bringen Sie die Ware mit… ach ja - und bitte Paul verzichten Sie dieses Mal auf die lächerliche Perücke." "Si, certo", murmelte Paul am anderen Ende der Leitung.
Paul war pünktlich. Wie immer. Er war ein sehr pünktlicher Mensch, der in seinem Freundeskreis zu aller erst wegen seiner Pünktlichkeit geschätzt wurde. Seine Chefin, Dr. med. Evelyn, sagte ihm neulich: "Paul, wenn du weiterhin so pünktlich bist, kürze ich dir dein Praktikantengehalt. Du nervst." Paul aber wusste, er würde es niemals über sich bringen, unpünktlicher zu sein. Derart in die finanzielle Enge getrieben, sah er sich also gezwungen, nach alternativen Geldquellen zu gucken. Er begann in Dr. med. Evelyns Praxis Schmerzmittel abzuzweigen und diese über das Darknet zum Verkauf anzubieten. Dort, in den romantischen Weiten des Darknet, lernte er auch Carmen kennen, die hauptberuflich Weichen für die SBB stellte. Nun allerdings begann sie Pauls Weichen zu verstellen. Ausserdem hatte Carmen eine Schwäche für Ibuprofen 3000, just das Schmerzmittel, das Paul im Angebot hatte. Früher hatte sie noch Yoga gemacht, aber seit ihre Lehrerin in Rente gegangen war, nahm sie lieber Schmerzmittel. Am liebsten zusammen mi ihrer guten Freundin Yvonne, die die meiste zeit über nichts zu tun hatte. So kam es, dass sie Yvonne fragte, ob sie nicht zum ersten Treffen mit Paul - von dem sie nicht sagen konnte, ob es ein Date oder ein Drogendeal werden würde - mitkäme.
Yvonne, die zwar eigentlich dabei war herumzusitzen und zu atmen, willigte ein, denn sie wusste um die süssen Freuden des Ibu3000. Carmen und Yonne standen also am vereinbarten Treffpunkt, einer verlassenen Fischbude im 13. Quartier östlich der alten Planke hinter den grossen Nussbäumen, auf denen Yvonne als junge Künstlerin Nüsse geknackt hatte. Sie waren nervös und viel zu früh da. Paul war pünktlich. Er sagte "Hi" und stellte fest, dass sowohl Carmen als auch Yvonne nach Long Island Icetea rochen. Bevor er überhaupt dazu kam, Carmen zu gestehen, wie sehr sie ihm im Darknet seine Weichen verstellt hatte, zog Yvonne den alten, rostigen Revolver ihres Grossvaters, der einst eine Nussfarm ganz in der Nähe bewirtschaftet hatte, hervor und jagte Paul eine Handvoll Kugeln zwischen die Rippen. "Ein Drogendealer weniger", sagte Yvonne zufrieden, während Carmen wie angewurzelt daneben stand.
Just in diesem Moment taucht ein weissbärtiger Mann auf und schlenderte gemächlich auf Carmen zu. Er trägt in die Jahre gekommene Malerkleidung und summt gedankenverloren den Italoklassiker "Pedro" vor sich hin. Glücklicherweise ist dies Yvonnes Lieblingslied, was sie aus ihrem Killerhoch erwachen lässt und zurück in die Realität holt. Schnell realisiert sie, dass Pauls Leiche zwar ein wunderbares Motiv für ihr nächstes Acrylmeisterwerk darstellen würde, aber nun trotzdem ganz dringend weggeschafft werden muss. Sie gibt der Leiche einen kräftigen Tritt, was Pauls schlaffen Körper ins Wasser platschen lässt. Carmen übergibt sich währenddessen
über die Hafenmauer. Das Geräusch des Übergebens holt dann doch auch den summenden Malermeister Beni in die Realität zurück.
Seinen fabelhaften Farbfabrikbesitzeraugen sticht direkt die kräftig bordeauxrote Lache auf dem Boden ins Auge. Er ist hin und weg von diesem magischen Farbton. Als er den Blick hebt und die umwerfend aussehende Künstlerin Yvonne entdeckt, beginnen tausend Schmetterlinge in seinem Bauch zu fliegen und seine Augen funkeln entzückt. Er grüsst Yvonne und beginnt, unbeholfen über das Wetter zu sprechen. Während sich Beni unsterblich in die pensionierte Künstlerin verliebt, versucht Yvonne nebenbei so gut es geht die Blutlache mit ihren Schuhen zu verwischen.
Doch da taucht unerwartet Dr. med. Evelyn im Raum auf und ruft "Stopp, sofort! Ich will eine DNA-Probe. Der Gerichtsmediziner soll anhand der Probe aus der Blutlache Indizien zum Täter ermitteln können. Beni wendet ein, "naja, ein klein wenig können wir abgeben, aber grundsätzlich möchte ich das Blut nutzen, um die Wände zu streichen. Die Farbe ist aktuell sehr modern und macht eine romantische Raumatmosphäre." Yvonne ist da gleicher Meinung. Aus dem Nichts stürzen sich Yvonne und Beni gleichzeitig auf Dr. med. Evelyn und erwürgen sie mit dem Malerroller. Die beiden bedienen sich aus dem Medizinkoffer der Dr. med. Evelyn und saugen das gesamte Blut aus den Adern der Leiche. Malermeister Beni füllt das ganze Blut in einen seiner roten, leeren Farbkessel ab und lädt den Kessel unauffällig in seinen rostig verbeulten Kastenwagen. Er fährt damit zum Metzger seines Vertrauens namens Florian. Der nimmt den Kessel mit Handkuss entgegen und verarbeitet das Blut mit dem Hintergedanken, dass dieses von Benis Hobby-Kaninchenzucht stammt, zu leckeren Blutwürsten. Somit war ein Teil der Leiche bereits verwertet. Sie konnten sich somit Gedanken machen, wie sie den Rest des leblosen Körpers beseitigen können.
Malermeister Beni dachte an den Marinero Lucien. Beni hatte Lucien einst einen Gefallen getan. Nun war er ihm etwas schuldig. Lucien würde wissen, was mit den restlichen leblosen Körper zu tun wäre. Schliesslich war dies sein Business. Mit seinem lockigen Engelshaar tarnte Lucien sich gekonnt, doch nirgendwo sonst war Beni einem so waschechten Mafioso begegnet. Seufzend wählte Beni die Nummer von Lucien. Benis Herz war schwer. Was würde Yvonne denken… Etwas in ihm sehnte sich nach seiner Unschuld von Kindheitstagen. Jetzt hatte er viel Blut am Stecken und dass er einen Mafioso um Hilfe bitten musste, schmerzte in seiner Seele fast so sehr wie Fender am Segelboot auf offener See. Yvonnes Bilder erinnerten Beni immer wieder daran, dass es das Gute im Menschen und in der Welt noch gab. Ein Schrei riss Beni aus seinen Träumereien.
Der Bootsputzmann Phipu schrie so laut, dass Beni sein Handy fallen liess. Er sah nur noch, wie Phipu in hohem Bogen vom Masten Richtung offene See flog. Fast gleichzeitig erschien Yvonne auf dem Stand-Up Paddle am rosafarbenen Horizont. Sie strahlte übers ganze Gesicht und schwenkte ein Einkaufsnetz vor sich in. "Hab soeben die letzten Pelati im Centro Comerciale von Porto Rotondo gekauft", rief sie der inzwischen auf dem Schiffsdeck stehenden Crew zu. Dann entdeckte sie den prustenden und Wasser spuckenden Phipu vor sich im Wasser.
Er hielt sich an einer Boje fest, welche ihm vermutlich Captain Jacqueline zugeworfen haben musste. Yvonne paddelte so schnell wie möglich zu Phipu hin. Mit letzter Kraft hievte er sich auf das Stand-Up. An Bord hielt der allzeit bereite Metzger Florian den Gennakerfall parat und streckte ihn den beiden entgegen. Carmen hatte schon zwei grosse Tassen mit dampfendem Kaffee (Hanf) auf den Tisch gestellt. Mit Florians Hilfe schaffe es Phipu wieder zurück an Bord der Vellamo.
Beni, der Malermeister, stand mit leicht geröteten Wangen an der Schiffsspitze und nahm Yvonne die Einkaufstasche ab. Dann half er ihr sofort in den Bademantel und legte ihr die froschgrünen Plüschbadelatschen zu Füssen. Yvonne lächelte ihn verlegen an.
"Ist da auch Alkohol drin?" Phipu schaute fragend zu Carmen, die ihm soeben den Kaffee serviert hatte. Carmen nahm ihren Flachmann aus der Brusttasche und schenkte ihm einen grosszügigen Gutsch in die Tasse ein. "Et voilà", sagte sie. "Haste wohl nötig."
Marinero-Mafioso Lucien, der sich in dieser Woche auch als Yvonnes Meermuse herausstellte, stimmte auf seinem Cello einen alten sizilianischen Song an. Florian wetzte im Hintergrund das Fleischmesser. Das war sein alltägliches Abendritual. Carmen machte sich daran, ihre geliebte Modellbahn-Lokomotive abzustauben.
Langsam aber sicher schienen sich die Wogen auf der Vellamo zu glätten. Und eine Prise Normalität schien wieder Einzug zu halten.
Die Crew segelte einem granatapfelroten Himmel entgegen und gedachte den beiden Opfern, die ihre Segelwoche gefordert hatte.
Sie spürten ihre Verbundenheit, die stärker war als der Tod; sie spürten ihre gemeinsame Geschichte lebte weiter, trug sie, bis weit hinter den Horizont.
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